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Plädoyer für die Stadt der Moderne

Chemnitz ist besser, als sein Ruf

Der Rosenhof in Chemnitz - Einkaufsstraße, gebaut in zwei Etappen

Der Rosenhof in Chemnitz – Einkaufsstraße, gebaut in zwei Etappen

Wer erst einmal einen schlechten Ruf weg hat, der wird ihn so schnell nicht wieder los. Das gilt für Menschen, wie für Städte. Chemnitz gehört zu den Städten in Deutschland, denen ein schlechter Ruf vorauseilt. Und das nicht erst seit einigen Jahren.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert nahm die Stadt einen rasanten Aufschwung. Das seit der frühen Neuzeit in Chemnitz ansässige Tuchmachergewerbe entwickelte sich zu einer Textilindustrie, die der Stadt den Namen „Sächsisches Manchester“ einbrachte. Gleichzeitig entwickelte sich der Maschinenbau und die Schlote der Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Schnell hatte die Stadt am Nordrand des Erzgebirges ihren Beinamen „Rußchemnitz“.

Kurz vor Ende des 2. Weltkrieges wurde die Innenstadt von Chemnitz zu 90% zerstört. Was Generationen in Jahrhunderten geschaffen hatten, war binnen weniger Stunden in Schutt und Asche gesunken.

Im Jahr 1953 wurde Chemnitz auf Beschluss der SED-Führung in Karl-Marx-Stadt umbenannt. Der Philosoph hatte Chemnitz nie besucht. Doch die traditionelle Arbeiterstadt sollte seinen Namen tragen. Warum? Man wollte weg vom Image der schmutzigen Großstadt mit ihren rauchenden Schloten. Der neue Name sollte ein neues Zeitalter in der Geschichte der Stadt einleiten.

Der Wiederaufbau …

Erste Nachkriegsbebauung an der Inneren Klosterstraße

Erste Nachkriegsbebauung an der Inneren Klosterstraße

… begann bereits in den 1950er Jahren und orientierte sich noch an der historischen Stadtstruktur. Doch das sollte sich bald ändern. 1958 wurden neue städtebauliche und architektonische Richtlinien für den Wiederaufbau der Chemnitzer bzw. Karl-Marx-Städter Innenstadt gesetzt. Breite Straßen, große Plätze, Grünanlagen, aufgelockerte Bauweise und große Verwaltungsgebäude sollten das Gesicht der Innenstadt für immer verändern. Man nahm in Kauf, dass dafür auch intakte Gebäude und Quartiere abgerissen werden mussten.

Straße der Nationen

Straße der Nationen

Das Gesicht von Karl-Marx-Stadt wandelte sich. An der Straße der Nationen in der Altstadt entstanden mit der Post und einem Industrieverwaltungsgebäude zwei große Einzelbaukörper. An der Straße der Nationen in der Neustadt wurden drei kammartig angeordnete Wohnblöcke mit zwischengelagerten Flachbauten für den Handel gebaut. An der Brückenstraße baute sich die SED-Bezirksleitung Chemnitz ein monumentales Verwaltungsgebäude, das in den 1980er Jahren nochmals um ein gefaltetes Gebäudeteil erweitert wurde. Anfang der 1970er Jahre schließlich wurde mit dem Bau der Chemnitzer Stadthalle und des damaligen Interhotels ein neuer städtebaulicher Mittelpunkt und architektonischer Höhepunkt in der Innenstadt gesetzt, der international Anerkennung fand.

An der Theaterstraße, der Mühlenstraße und am Rosenhof entstanden Wohnblöcke in Zeilenbauweise. Der Rosenhof selbst wurde zu einer neuen Einkaufsstraße umgewandelt, die durchaus ihre Reize hat.

Altes und Neues Rathaus am Markt

Altes und Neues Rathaus am Markt

Der 2. Weltkrieg hat in Chemnitz vieles zerstört, aber nicht alles. Wie ein Fenster in die Vergangenheit blieben das Alte und das Neue Rathaus, die Jakobikirche und das Siegertsche Haus am Markt stehen. Auch der Rote Turm, der letzte erhaltene Teil der Chemnitzer Stadtbefestigung, wurde nach dem Krieg wieder hergestellt.

Die Neubebauung nahm keine Rücksicht auf den alten Stadtgrundriss und auf die erhaltenen historischen Gebäude. Die anhaltende große Wohnungsnot in der DDR machte der Bebauung der Innenstadt von Karl-Marx-Stadt ein schnelles Ende.

Karl-Marx-Stadt, …

… das war 1990 ein nicht zusammenpassendes Konglomerat sozialistischer Prestigebauten, schlichter Wohnbauten und weniger alter Gebäude. Die Innenstadt hatte keine Aufenthaltsqualität, die großen Straßen und Plätze wirkten erdrückend. Chemnitz, wie Karl-Marx-Stadt seit 1990 wieder heißt, ist hässlich. So die weitläufige Meinung. Ein Freund sagte mal: „Chemnitz ist eine Donutstadt – in der Mitte ist nichts und rundherum ist etwas.“

Nach 1990 standen die Stadtplaner und Architekten vor der Aufgabe, das Gebäudesammelsurium in der Chemnitzer Innenstadt so miteinander zu verbinden, dass eine Stadt im menschlichen Maßstab entsteht, deren Geschichte – auch die nach 1945 – ablesbar bleibt. Ein schwieriges Unterfangen.

Roter Turm und Galerie Roter Turm

Roter Turm und Galerie Roter Turm

Und es ist geglückt. Die Innenstadt wurde in Quartiere aufgeteilt, die den historischen entsprechen, soweit dies noch möglich war. Die Bebauung der Innenstadt erfolgte mit einer Mischung aus großflächigen Einkaufszentren und Einzelgebäuden. Bewusst baute man nicht die alte Stadt neu auf, sondern präsentiert moderne Gebäude. Der Verlauf der Stadtmauer wurde an der östlichen Grenze der Altstadt mit einem Grünstreifen nachgezeichnet. Der Baukomplex aus Stadthalle und Hotel verblieb in seiner Grünfläche. Der Marktplatz erhielt wieder eine Fassung seiner Raumkanten und der Rosenhof wurde durch Flachbauten aufgewertet. Sicher kann man sich über die architektonische Ausformung mancher Gebäude streiten. Angesichts der schwierigen Aufgabe, vor den Planer standen, kann sich das Ergebnis sehen lassen.

König-Albert-Museum am Theaterplatz

König-Albert-Museum am Theaterplatz

Chemnitz hat sich einen Slogan „Stadt der Moderne“ gegeben. Und das zu Recht. Das schnelle Wachstum der Stadt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte den Bau öffentlicher Gebäude erforderlich. So entstanden zwischen 1890 und 1930 u.a. das Neue Rathaus, der Chemnitzer Hof, die Industrieschule, das König-Albert-Museum, das Opernhaus, die ehemalige Ortskrankenkasse, das Stadtbad, Bankgebäude, das Warenhaus Schocken und das Warenhaus Tietz. Alle Gebäude zählen zu den Bauten der Moderne. Das Warenhaus Schocken gilt dabei als eines der bedeutendsten Bauten der Neuen Sachlichkeit in Deutschland.

Aber auch Gebäude, die nach 1945 entstanden, haben ihren städtebaulichen und architektonischen Wert. Das Postgebäude in der Innenstadt mag den alten Stadtgrundriss negieren, mit seiner Porphyrfassade ist es jedoch ein qualitätvoller Bau. Stadthalle und Hotel fanden international Beachtung. Welchen Wert die Gebäude haben, die nach 1990 entstanden, wird die Zeit zeigen.

Chemnitz ist die Stadt der Moderne

Das ehem. Warenhaus Schocken

Das ehem. Warenhaus Schocken

Der Gebäudebestand aus der Zeit des späten Historismus, des Jugendstils und der Neuen Sachlichkeit, des Expressionismus und des Neoklassizismus ist in Chemnitz beachtlich. Der Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg begann mit der Reminiszenz der DDR an die nationalen Bautraditionen, führte über die Monumentalität der SED-Bezirksverwaltung und endete in der Tristesse der Plattenbauten am Falkeplatz. Die Architekten setzten ihre Vorstellung von Modernem Bauen nach 1990 in verschiedensten Bauformen und Materialien um. In Chemnitz lässt sich auf kleinem Raum die Architekturgeschichte der letzten 120 Jahre ablesen.

Das Karl-Marx-Monument

Das Karl-Marx-Monument

Und dann ist da noch der „Nüschel“ – das Karl-Marx-Monument. Von dem sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel geschaffen, schaut der sieben Meter hohe Bronzekopf des Philosophen grimmig auf die Chemnitzer Innenstadt. Lange wurde diskutiert, soll das Denkmal weg oder soll es bleiben. Man entschied sich für bleiben. Und das war gut so. Längst ist das Monument ein Touristenmagnet geworden. Und vielleicht noch wichtiger: Die Stadt Chemnitz zeigt, dass sie auch zu ihrer DDR-Geschichte steht und sie als Teil der Stadtgeschichte ansieht.

Besuchen Sie Chemnitz. Vergessen Sie alles, was Sie jemals über die Stadt gehört haben. Lassen Sie sich ein auf eine Stadt der Gegensätze und Brüche. Erleben Sie den Wandel der städtebaulichen und architektonischen Maßstäbe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erleben Sie die prächtigen Bauten der aufstrebenden Industriestadt des 19. Jahrhunderts. Erleben Sie eine Stadt, deren Wiederaufbau über 50 Jahre dauerte und bis heute nicht abgeschlossen ist. Erleben Sie eine Stadt, die entdeckt werden will.

Entdecken Sie die Stadt Chemnitz:

Stadtrundgang durch die Chemnitzer Innenstadt,
Rundgang über den Kaßberg,

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Autor: Mirko Seidel am 31. Aug 2014 13:16, Rubrik: Artikel, Artikel & Berichte, Chemnitz, Sachsen, Stadtansichten, Kommentare per Feed RSS 2.0, Kommentar schreiben,


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