Geschichte & Geschichten

50 Jahre „Blechbüchse“

Ein Leipziger Wahrzeichen feiert Geburtstag

Die Blechbüchse am Richard-Wagner-Platz

Die Blechbüchse am Richard-Wagner-Platz

Wer Leipzig besucht, dem fällt eine Gebäude besonders auf – geschwungen, wie ein Flügel, eine Fassade aus Aluminium, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Die Leipziger Blechbüchse feiert Geburtstag.

Der Leipziger Architekt Emil Franz Hänsel kaufte 1907 ein Gebäude mit Grundstück am Brühl Nr. 1, bis dahin Eigentum der Familie Kees. Hänsel ließ die Bebauung abreißen, darunter auch den Gasthof „Zum roten und weißen Löwen“, das Geburtshaus des Komponisten Richard Wagner. Innerhalb nur eines Jahres ließ Hänsel ein siebengeschossiges Geschäftshaus errichten, in welchem die Fa. Messow & Waldschmidt 1908 das Kaufhaus Brühl G.m.b.H. offiziell eröffnete. 8.000 Quadratmeter umfasste die Verkaufsfläche und damit zählte das Kaufhaus am Leipziger Brühl zu den größten seiner Art in Mitteldeutschland.

Das Kaufhaus Brühl 1908

Das Kaufhaus Brühl 1908

1912 wurde das Kaufhaus zum ersten Mal erweitert, 1927 zum zweiten Mal und erstmals erhielt ein Leipziger Warenhaus eine Rolltreppe. Fast 20.000 Quadratmeter umfasste die Verkaufsfläche.

Der Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 beschädigte das Haus schwer. Es musste geschlossen werden. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte die Enteignung und die Ruine ging an das Land Sachsen, das es 1947 das Kaufhaus der wieder gegründeten Konsumgenossenschaft Leipzig übertrug. Schäden an der Fassade und das zerstörte Dach wurden notdürftig wiederhergestellt.

1965 musste die Leipziger Konsumgenossenschaft das Kaufhaus an das Zentrale Handelsunternehmen „Konsument“ abgeben. Der Wiederaufbau begann 1966 jedoch nicht nach historischen Vorbild. Die erhalten gebliebene Dachlandschaft wurde abgerissen, ein neues Dachgeschoss aufgesetzt und eine neue Fassade aus Metall installiert, die seit 50 Jahren das Stadtbild von Leipzig prägt.

Die geschwungene fensterlose Fassade, strukturiert durch hyperbolische Paraboloidelemente aus Aluminium wurde von dem Leipziger Künstler und Metallgestalter Harry Müller geschaffen. An der Rückseite des alten Kaufhauses entstand ein achtgeschossiges Verwaltungs- und Lagergebäude. Daran schloss sich ein Flachbau an, in dem auf etwa 1.000 Quadratmeter ein Lebensmittelmarkt untergebracht war. Auf fünf Geschossen standen im Kaufhaus 11.500 Quadratmeter Verkaufsfläche zur Verfügung. 1968 erfolgt die offizielle Einweihung als „Konsument-Warenhaus am Brühl“ – das größte Warenhaus in der DDR. Der Volksmund hatte schnell einen Namen für das ungewöhnliche Bauwerk. „Blechbüchse“ – nennen die Leipziger das Haus seitdem, gern auch mal Keksdose oder Bemmbiggse.

Die Horten-konsument GmbH führte das Haus nach 1990 bis zum Jahr 2001 weiter. Kurz als Kaufhof bezeichnet wurde das Haus an Hertie/Karstadt verkauft, die das Gebäude bis Oktober 2006 als Interim nutzte. Danach stand das Warenhaus am Brühl leer, wurde zeitweise als Ausstellungsort genutzt.

Abriss des alten Kaufhauses (Juni 2010)

Abriss des alten Kaufhauses (Juni 2010)

Ungemach drohte – der Leipziger Brühl sollte neu bebaut werden. Die drei Wohnblöcke, die das Stadtbild fast 40 Jahre prägten, fielen dem Bagger zum Opfer. Auch die Aluminiumfassade wurde demontiert – und siehe da, unter der DDR-Fassade kam die Jugendstilfassade aus dem Jahr 1907 zum Vorschein. Mit Schäden, aber erhaltenswürdig. Was tun? Die Jugendstilfassade erhalten, die DDR-Fassade wieder anbringen? Schließlich siegte der denkmalpflegerische Unverstand. Die historische Kaufhausfassade wurde abgerissen und damit ein Zeugnis der Kaufhausarchitektur in Mitteldeutschland unwiederbringlich vernichtet. Ein 15 m breites Alibireststück blieb erhalten und sollte als „Vitrine“ unter Glas sichtbar sein. Das 15-Meter-Reststück blieb erhalten, verschwand aber unter der wieder angebrachten Aluminiumfassade. Ein Stahlbetonbau wurde errichtet, die die geschwungene Bauform des alten Kaufhauses wieder aufnahm. Denn die Entscheidung war getroffen – die DDR-Fassade kommt wieder dran. Bis zum März 2010 wurde die Aluminiumfassade demontiert, in Berlin eingelagert und ab März 2012 wieder angebracht.

Wer das Reststück der Jugendstilfassade von Emil Franz Hänsel sehen will, der muss wissen, wo er suchen muss, muss schlank sein und um die Ecke schauen können.

Bildnachweis: historische Aufnahem: Von unbekannt – Der Leipziger. Illustrierte Wochenschrift. 3. Jg., Nr. 40, 1908, S. 1194, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3705164

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Autor: Mirko Seidel am 23. Aug 2018 12:26, Rubrik: Geschichte & Geschichten, Stadt Leipzig, Kommentare per Feed RSS 2.0, Kommentar schreiben,


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